CH: Die Kalten Krieger halten nichts von Kampfjets – sie wollen Raketen
Henry Habegger, CH Media, 21.9.2020
Kommentar Roger Harr: Fliegerabwehrlenkwaffen können einfach lokalisiert und aus der Luft bekämpft werden. Sie sind auch unbrauchbar für die visuelle Identifikation von Luftfahrzeugen. Dazu braucht es leistungsfähige Kampfjets mit Piloten, welche beobachten und entscheiden können. Andernfalls werden in Spannungssituation unnötigerweise zivile Flugzeuge abgeschossen. Fliegerabwehr Lenkwaffen können jedoch einen Gegner zwingen gewisse Höhenprofile zu meiden. Kein Staat setzt alleine auf Fliegerabwehrlenkwaffen. Deshalb ist der Entscheid der Schweiz korrekt, Kampfflugzeuge und Fliegerabwehrlenkwaffen zu beschaffen.
Kommentar Konrad Alder, Militärpolitische Nachrichten Schweiz (MNS): Fridolin Vögeli (FV) liegt mit seinem Aufruf anstelle eines neuen Kampfflugzeugs Flugabwehrlenkwaffen grosser Reichweite zu beschaffen, gleich doppelt falsch:
- Ein Bodluv-System grösserer Reichweite bereits in Planung: Ein Bodluv-System grösserer Reichweite, wie von FV gefordert, ist bereits integraler Bestandteil unserer Planung Air2030 zum Schutz unseres Luftraumes und mit CHF 2 Mrd. budgetiert. Ein entsprechendes Auswahlverfahren läuft und der Typenentscheid wird für das kommende Jahr erwartet. Es bewerben sich mit einer zweiten Offert Stellung bis spätestens kommenden November die Systeme Eurosam SAMP/T (FRA) und Raytheon Patriot (USA).
- Kampfflugzeuge und bodengestützte Luftverteidigung sind in ihrer Wirkung komplementär. Wir benötigen beide! Eine bodengestützte Luftverteidigung kann nur schiessen oder nicht schiessen. Flugabwehrlenkwaffen, einmal gestartet, verfolgen ihr Ziel bis zum Aufschlag. Damit sind sie für den Luftpolizeidienst in Friedenszeiten und für den Schutz unseres Luftraums in Zeiten erhöhter Spannungen völlig ungeeignet. In diesen beiden Fällen ist ein Mann im Cockpit eines leistungsfähigen Kampfflugzeugs, der fähig ist, vor Ort situativ die richtigen Entscheidungen zu treffen, absolut notwendig. Tragische Abschüsse von zivilen Passagierflugzeugen mit Hunderten von Toten über dem Persischen Golf (03.07.88: Iran-Air-Flug 655), in der Ukraine (17.07.14: Malaysia-Airlines-Flug 17) und im Iran (08.01.20: Ukraine-International-Airlines-Flug 752) belegen dies eindrücklich!
Kommt hinzu, dass bei einem fehlenden, ungenügenden oder nicht zum Einsatz gelangenden Luftschirm mit Kampfflugzeugen bodengestützte Luftverteidigungssysteme rasch von gegnerischen SEAD-Operationen (Suppression of Enemy Air Defenses) in ihrer Wirkung unterdrückt oder vernichtet werden. Dafür setzt der Angreifer u.a. Störsender, Täusch- und Marschflugkörper sowie für die Bekämpfung von Radaranlagen spezialisierte Lenkwaffen und Drohnen ein. Die grosse Verletzbarkeit von bodengestützten Flugabwehrsystemen ohne eine voll integrierte Unterstützung durch Kampfflugzeuge belegt eindrücklich ein israelisch/syrischer Schlagabtausch vom 21. Januar 2019 zwischen israelischen Kampfflugzeugen und einem gestaffelten syrischen Flugabwehrdispositiv im Raume Damaskus. Ein typisches Beispiel, das sich durch Dutzende weiterer Luftkriegsoperationen der jüngeren Geschichte bestätigen liesse.
Die als Objekt- oder Raumschutz statisch und/oder verlegbar eingesetzte bodengestützte Luftverteidigung und reaktionsschnell in drei Dimensionen operierende Kampfflugzeuge sind aufgrund ihrer unterschiedlichen Leistungscharakteristiken untrennbar komplementäre, sich in ihren Fähigkeiten und ihrer Wirkung ergänzende Waffensysteme. D.h. für einen wirkungsvollen Schutz unseres Luftraums in Zeiten erhöhter Spannungen und in einem Verteidigungsfall – als eigentliche Daseinsberechtigung für unsere Luftwaffe – benötigen wir zwingend beide Elemente in einem voll integrierten Verbund. Letzterer geführt und unterstützt von einem leistungsfähigen Luftraumüber-wachungs- und Einsatzleitsystem, das uns heute in Form von FLORAKO zur Verfügung steht und das sich zurzeit in einer Phase der Erneuerung befindet. Die Vereinigung dieser drei Elemente resultiert in einem belastbaren, integrierten Luftverteidigungsdispositiv mit einer räumlichen Tiefe in allen drei Dimensionen und mit sich ergänzenden und überlagernden Feuerwirkräumen.
Für eine – wie von FV propagiert – ohne die Unterstützung von leistungsstarken Kampfflugzeugen agierende bodengestützte Luftverteidigung gilt sonst uneingeschränkt die Aussage von Charles L. Donnelly, Jr. Retired U.S. Air Force, Commander Chief of U.S. Air Force Europe 1984 to May 1987:
« Enemy ground-based air defences are targets that will be defeated at times and places of our choosing. Any groundbased air defense system has vulnerabilities that reduces its strength. For example, it is never equally strong throughout its length and breadth, it has flanks, it is immobile compared with air power, and it is normally oriented toward a specific threat. The vulnerabilities can be exploited in a well-planned air campaign. And because the vulnerabilities are not technological, but inherent in the concept, a ground-based system never will be able to stand alone against the unpredictable shock and violence of concentrated air attacks. »

The self-propelled launch vehicle 5P90S on a BAZ-6909-022 chassis for the S-400 system.
«Es ist ein vollkommener Blödsinn, Raketen in der Luft herumfliegen zu lassen, bis man sie endlich abschiessen kann.» Sagt Fridolin Vögeli, 77, pensionierter Elektroingenieur ETH aus Wetzikon ZH, als Major einst Kommandant eines Infanteriebataillons in Stein am Rhein an der Grenze. Vögeli gehört zu einer kleinen Gruppe von «Militärköpfen», wie sie sich nennen, aus der verblichenen Armee 61 aus dem Kalten Krieg, 75 bis 85 Jahre alt. Selbst alte Divisionäre gehörten, heisst es, zur Diskussionsrunde, aber die wollten ihre Namen nicht nennen, weil sie sonst angefeindet würden.
Als junge Ingenieure konnten Vögeli und seine Mitstreiter in den Achtzigerjahren «Fliegerabwehr und Raketenabwehr in England und den USA evaluieren», sie arbeiteten an Raketenprojekten mit, einer war bei Bührle. In den Lobgesang auf Kampfjets wollen sie partout nicht einstimmen. Im Gegenteil. Sie wollen keine Kampfjets, sondern eine flächendeckende Flieger- und Raketenabwehr vom Boden, wie weiland in der Armee 61 mit «Florida» und den «Bloodhound»-Raketen. Kronzeuge der Gruppe Vögeli ist ein US-General, Militärpilot und Korea-Veteran, der in den Achtzigerjahren für die US Army neue taktische Systeme entwickelte. Er erklärte den Schweizern, als es um den Kauf der F/A-18 ging: Als Luftwaffen-General würde er keinen seiner 100 Millionen Dollar teuren Flieger in den lückenlos überwachten Schweizer Luftraum schicken, weil er mit einer Wahrscheinlichkeit von 85 Prozent von den «nur» 1 Million teuren Schweizer Flab-Raketen abgeschossen würde.
«Untauglich», um ein Land wie Schweiz zu verteidigen
Für die Schweizer ist spätestens seit da klar, dass eine Fliegerabwehr vom Boden den besten Schutz bietet. Vögeli: «Kampfflugzeuge braucht man, um über 1000 Kilometer Raketen oder Bomben ins feindliche Gebiet zu bringen – wie das derzeit die Israeli im Iran machen.» Um ein Land wie die Schweiz zu verteidigen, seien sie praktisch untauglich. Nach spätestens vier Wochen, das schreibe das VBS in seinen Papieren selbst, blieben im Ernstfall die 40 neuen Kampfjets, noch ohne Feindkontakt, am Boden – wegen ihrer begrenzten Durchhaltefähigkeit. Vögeli hält es für «obszön, 200 Millionen für einen einzigen dieser Jets auszugeben».
Eine Fliegerabwehr vom Boden dagegen, mit ihren auch heute «nur» zwei bis drei Millionen teuren Raketen, könnte ungleich länger durchhalten. Dank dem System, wie «Florida» eines war, von Experten der US Army damals als «beste Luftverteidigung der Welt» bezeichnet. Mit ihren sechs permanenten Stellungen, verteilt über das Mittelland, mit 68 Werfern, die sich gegenseitig schützen konnten. Mit einer Waffenreichweite von 160 Kilometern und einer Einsatzhöhe von 300 Metern bis 24 Kilometern. Die Amerikaner hätten danach selbst ein System nach dem Schweizer Vorbild gebaut.
Die Veteranen klingen in der Kampfjetfrage fast wie Armeeabschaffer. Sie sind das Gegenteil: Sie wollen wieder eine grösser Armee, eine richtige Milizarmee, wie die Armee 61 eine war. Alles nur Nostalgie, überholt von der Zeit? Die Auslangslage, die Waffensysteme hätten sich in den wesentlichen Faktoren nicht entscheidend verändert, so Vögeli. Er war in den Sechzigerjahren an der ETH Assistent von Professor Ernst Baumann, der 1965 im Auftrag des Bundesrats die offerierten Systeme für das neue Luftverteidigungsleitsystem Florida evaluierte, sie auf seine Machbarkeit prüfte und das Projekt danach leitete. Auch um «Florida» gab es damals Streit, die Kritiker kamen aber damals aus der SP. Sie wollten eine billigere und wirksamere Lösung.
Gerne könnte es die S-400-Rakete der Russen sein
Ironie der Geschichte: Heute will die SP eine grössere Boden-Luft-Abwehr (Bodluv) und keine schweren Kampfjets. Und Vögeli und seine Mitstreiter wollen die «alte» Fliegerabwehr zurück. Für 1–2 Milliarden, glaubt er, ist ein wirksamer flächendeckender Schutzschirm zu haben, mit Hunderten von Raketen. «Ein Raketensystem wie in der Armee 61. Die Standorte, die Infrastrukturen haben wir ja.» Gerne könne auch die russische S-400-Rakete beschafft werden, die offenbar Tarnkappenbomber abschiessen kann. Aber da ist ja noch die Luftpolizei.
Vögeli zeigt sich unbeirrt: Dafür reichten die alten F/A-18 noch lange. Und an die Luftpolizei glaubt er ja ohnehin nicht. Ein modernes Flugzeug habe heute ein System, das immer genau wisse, wo es sich befinde. Man müsse also nicht hochsteigen, um ihm zu sagen, dass es falsch fliege. Und: «Man kann ein Gebiet absperren, beispielsweise den Luftraum über Davos, und wenn ein Flugzeug trotzdem reinfliegt, trotz Warnungen, dann schiesst man halt einmal eines mit den Boden-Luft-Raketen oder Flab-Kanonen ab.» Klingt brutal. «Macht man denn mit Kampfflugzeugen etwas anderes?», gibt Vögeli zurück. «Die Raketen kann man gerade so gut vom Boden aus abfeuern, nur kommt das viel billiger.»