CH: Kommentar – Ein Ja zum Kampfjet ist ein sicherheitspolitisches Zeichen – nicht nur für die Schweiz, sondern auch für Europa
Georg Häsler Sansano, NZZ, 10.9.2020
Die Schweiz hat am 27. September die Wahl, eine ernsthafte Partnerin im Kern des Kontinents zu bleiben – oder ihren Nachbarländern zur Last zu werden.

Jean-Christophe Bott / Keystone
Die Schweiz ist nur auf der Landkarte ein Kleinstaat. Wirtschaftlich gehört sie zu den zwanzig grössten Industrienationen der Welt. Aber auch sicherheitspolitisch verfügt sie – zumindest in Europa – über eine eigenständige Stimme, weil sie sich auch nach der strategischen Wende 1989 ein militärisches Gesamtsystem mit Bodentruppen, Cyberspezialisten und einer Luftwaffe leistet. Moderne Kampfflugzeuge sind ein integraler Bestandteil davon. Der Ersatz der F/A-18-Jets, die bis 2030 ihr Lebensende erreichen, ist auch mit Blick auf die Konflikte an den Rändern Europas eine logische Konsequenz. Zumindest, wenn die Schweiz auch weiterhin über eine glaubwürdige Armee verfügen will, die integraler Teil einer souveränen Sicherheitspolitik ist.
Es ist allerdings erstaunlich, wie die Wogen des Abstimmungskampfs den sicherheitspolitischen Blick verengen. Die Kampfjetgegner unterstellen der Armee, sich einseitig auf ein unwahrscheinliches Szenario auszurichten, und tun so, als ob es zwischen Krieg und Frieden keine Grautöne gäbe. Einen möglichen Krieg suggerieren sie als direkten Angriff auf die Schweiz – ein überholtes, sehr unwahrscheinliches Bild aus der Vergangenheit. Überhaupt sei die Schweiz doch dank dem Nato-Abwehrschirm und ihrem freundschaftlichen Verhältnis zu den Nachbarländern im Konfliktfall grundsätzlich geschützt. Die Argumentation klingt fast wie damals in den 1990er Jahren, als der Westen an die Geschichte vom «Ende der Geschichte» glaubte.
Strategiedebatte nach Grundsatzentscheid des Volkes
Dabei ist das geopolitische Wetterleuchten in Osteuropa, im Mittelmeer oder südlich der Sahara unübersehbar. Das Ringen der Grossmächte strapaziert die Einheit der Nato. Bereits heute binden die Konflikte rund um die westeuropäische Wohlstandszone einen beträchtlichen Teil der europäischen Streitkräfte. Noch können sich Alpenländer auf die Schweizer Armee verlassen. Sie verhindert ein Sicherheitsvakuum in einem Schlüsselgelände Europas. Die dreissig schweizerischen F/A-18 wären auch bei erhöhten Spannungen in der Lage, Machtdemonstrationen von Konfliktparteien entschieden entgegenzutreten. Auch wenn die Akteure heute ihre Auseinandersetzung möglichst lange unter der Kriegsschwelle halten wollen, sind kurze Einsätze zur «show of force» möglich – mit erheblichem Eskalationspotenzial bis hin zu einem kurzen, bewaffneten Konflikt.
Die Beschaffung neuer Kampfflugzeuge sollte deshalb nicht isoliert aus innenpolitischer Sicht betrachtet werden, sondern im europäischen Kontext. Bei einem Nein am 27. September würde die Schweiz zur Last für ihre Nachbarländer. Sie wären ab 2030 indirekt auch für den Schutz der Luftsäule über der Schweiz zuständig. Die Armee könnte selbst den Luftpolizeidienst in einer normalen Lage nicht mehr sicherstellen. Sagt das Volk dagegen Ja, leistet die Schweiz auch weiterhin ihren Beitrag zur Sicherheit des Kontinents, indem sie Europa und der Nato im Alpenraum den Rücken freihält. Damit schützt sie mit verhältnismässig wenig Mitteln auch ihre eigene Souveränität im Luftraum. Die Schweizer Armee bleibt Partnerin auf Augenhöhe und sichert sich so die Zusammenarbeit mit befreundeten Luftwaffen.
Mit neuen Kampfjets würden diese Kooperationen mit dem Herstellerland weiter vertieft. Der Typenentscheid hat deshalb auch einen politischen Aspekt. Er wird nach der Abstimmung auf der Basis einer Evaluation der Fähigkeiten und Finanzen gefällt. Trotzdem verfängt das linke Argument eines «Blankochecks» nicht. Denn das Parlament könnte die Beschaffung noch immer mit der Rückweisung des Rüstungsprogramms stoppen. Dann müsste der Flugzeugkauf neu beurteilt werden.
Umso mehr lohnt sich aber nach dem Grundsatzentscheid des Volkes eine vertiefte, sicherheitspolitische Strategiedebatte. Die Schweiz ist kein Asterix-Dorf. Moderne Kampfjets lassen sich wegen des internationalen Netzwerkes an Zuliefernden und Lieferketten nicht mehr eindeutig einem Land zuordnen. Trotzdem steht die Schweiz faktisch vor der Entscheidung, mit dem «Eurofighter» oder der «Rafale» einen eher europäischen Weg einzuschlagen, mit der «Super Hornet» oder der F-35 dagegen Teil einer amerikanisch ausgerichteten Rüstungsallianz zu sein. Beide Varianten haben ihre Vor- und Nachteile. Über diese muss die Politik öffentlich streiten. Es geht um die Positionierung der Schweiz als Partnerin innerhalb der westlichen Welt.
Konzeptstreit über den Umgang mit neuen Bedrohungen
Diese Strategiedebatte wäre eine neue Chance, die bewaffnete Neutralität weiterzudenken. Sie soll eine Maxime der schweizerischen Sicherheitspolitik bleiben, muss aber in eine vernetzte Zeit mit komplexen Konfliktformen und neuen Mächtekonstellationen übersetzt werden. Die Investitionen, um die Luftwaffe und überhaupt die Armee à jour zu halten, können auch als Solidarität der Schweiz mit dem bedrängten Konzept des freiheitlich-demokratischen Westens gegen die autoritäre Konkurrenz verstanden werden. Diese Lesart von Sicherheitspolitik hätte auch einen konkreten, politischen Gegenwert, wenn es um die zentralen Fragen der Zusammenarbeit mit den USA oder den europäischen Staaten geht.
So kann sich die Schweiz vielleicht auch vom ewig gleichen, rückwärtsgerichteten Grundsatzdiskurs über Sinn und Unsinn der Schweizer Armee lösen. Rechte Warnrufe hinsichtlich des Verlusts eidgenössischer Wehrtradition und der absoluten Unabhängigkeit wirken genauso der Zeit entrückt wie linke Vorstellungen über einen autoritär-militärischen Staat im Staat der Bourgeoisie. Es sind dies argumentative Atavismen aus dem 20. Jahrhundert. Ein Ja zu neuen Kampfflugzeugen würde die nötige Handlungsfreiheit schaffen, das Profil der Armee als ein Instrument der Sicherheitspolitik unter mehreren zu schärfen – nüchtern, aber pointiert.
Zu einer Strategiedebatte gehört deshalb auch ein Konzeptionsstreit darüber, wie die Schweizer Armee der Zukunft aussehen soll. Die SP hat diese bereits im Abstimmungskampf angerissen und schlägt eine Alternative vor: Die völkerrechtliche Verpflichtung der Luftpolizei soll die Luftwaffe mit leichten Kampfflugzeugen erfüllen, um die F/A-18 zu schonen. Daneben setzt das SP-Papier auf bodengestützte Luftverteidigung. Die Idee hält dem «reality check» allerdings nicht stand und hat ihren Ursprung in der Vergangenheit.
Die SP und mit ihr auch einige hohe Offiziere verlangten von jeher die «strukturelle Nichtangriffsfähigkeit» der Schweizer Armee. Deshalb war sie gegenüber Kampfpanzern oder -jets stets besonders kritisch, weil diese auch offensiv eingesetzt werden können. Um aber ein Gefecht gestalten zu können und einen Gegner auch wirklich zu besiegen, muss die Armee auch fähig sein anzugreifen. Dies ist die verbreitete Sichtweise. In den 1960er Jahren hatte dieser Konzeptstreit seinen Höhepunkt. Die leichten Kampfjets wecken deshalb primär Reminiszenzen an damals. Auch Experten wie der renommierte Kampfjetentwickler Georges Bridel sprechen diesen Unterschalltrainern die Leistungsfähigkeit ab, auch nur ein Verkehrsflugzeug auf 10 000 Metern zeitgerecht abfangen zu können
Ein Konzeptionsstreit von heute muss sich um die richtigen Lösungen für die zusätzlichen Bedrohungen unserer Zeit drehen: Die Corona-Krise ist noch nicht vorbei. Der Klimawandel schreitet voran. Ausserdem könnte ein lang anhaltendes Strom-Blackout der Schweiz buchstäblich den Stecker ziehen – mit ernsthaften Problemen für Wirtschaft und Gesellschaft schon nach zwei Tagen. Es ist legitim, die Frage nach den Schwergewichten des Krisenmanagements und den Instrumenten der Sicherheitspolitik zu stellen. Es ist dagegen falsch, die eine gegen die andere Bedrohung auszuspielen, wie die SP und die Grünen es im Abstimmungskampf von allen Podien herab tun. Ganz im Gegenteil sind Pandemien oder auch der Klimawandel eigentliche Treiber für Konflikte. Ein Staat, der seine Bevölkerung schützen will, muss also auch auf Gewalt reagieren können. Am Boden, in der Luft oder auch im Cyberspace.
Kein Risiko von Fähigkeitslücken eingehen
Denn neue Kampfflugzeuge stehen nicht in Konkurrenz zu einer effektiven Abwehr von digitalen Angriffen, sondern verbinden die neuen und die konventionellen Fähigkeiten der Armee. In einer eskalierenden Lage legen gegnerische Hacker und Informationskrieger den Boden für konventionelle Gewaltanwendung. Sie sind die Marathonläufer moderner Konflikte, die herkömmlichen Teile der Armee müssen dagegen in heissen Phasen jederzeit als Sprinter in den Einsatz gehen können. Nach den Erfahrungen mit der Ukraine 2014 hat die Nato im Baltikum die Cyber- und Info-War-Abwehr verstärkt, aber auch in Panzer und Kampfjets als Teil der Präsenz an vorderster Front investiert (Enhanced Forward Presence).
Ein Ja zu den Kampfjets gibt der Schweizer Armee die Möglichkeit, auch in der Zeit nach 2030 als Gesamtsystem zu funktionieren. Sie behält die Fähigkeit zum militärischen Sprint in der Luft, vernetzt mit den Bodentruppen und den Marathonläufern im Cyberbereich. Ohne Luftwaffe ist die Armee keine Armee mehr. Der Verfassungsauftrag der Landesverteidigung müsste angepasst werden.
Ausserdem drängt die Zeit: Der Volksentscheid vom 27. September ist die letzte Möglichkeit, die F/A-18 nahtlos zu ersetzen. Eine weitere Lebensverlängerung der bisherigen Flotte ist nicht mehr möglich. Bei einem Nein entstände eine schmerzliche Lücke, die später nur für sehr viel mehr Geld zu schliessen wäre. Die teure Ausbildung der Piloten begänne praktisch bei null. Die sechs Milliarden aus dem ordentlichen Militärbudget für neue Jets zum jetzigen Zeitpunkt plus die Betriebskosten für die nächsten dreissig Jahre ab 2030 sollte sich ein so reiches Land wie Schweiz leisten können.
Ein beherztes Ja für neue Kampfjets setzt deshalb ein Zeichen. Ein Zeichen des Willens, sich auch in Zukunft gegen allfällige Begehrlichkeiten selbst wehren zu können und gleichzeitig ein sicherheitspolitischer Partner im Alpenraum zu bleiben. Denn die geopolitischen Gefahren der nächsten Jahre sind eine gemeinsame Sorge aller Europäer.