Die Polemik um Freifallbomben wird der Realität nicht gerecht: Die neuen Kampfjets müssen Ziele am Boden mit höchster Präzision bekämpfen können

Die US-Offerten für die Nachfolge der F/A-18 listen auch die Bestandteile für Luft-Boden-Waffen auf. Das ist keine Überraschung: Es war die erklärte Absicht des Bundesrats, dass die Luftwaffe auch wieder die Bodentruppen unterstützen kann.

Georg Häsler Sansano, NZZ, 7.10.2020

Montage einer Mk-82-Lenkwaffe. Das Geschoss besteht aus mehreren Komponenten, die es schliesslich zu einer Hochpräzisionswaffe machen.
ALAMY

Schlagworte können in der Politik wie Bomben einschlagen. Nach dem hauchdünnen Ja zum Kampfjet haben die Gegner der Vorlage gleich zwei Begriffe mit Sprengkraft in ihr argumentatives Arsenal aufgenommen, um weiter gegen das Geschäft Stimmung zu machen: Erdkampf und Freifallbombe. Das erinnert an Vietnam, den Kalten Krieg und noch schlimmer an kollektive Traumata wie die Bombardierung von Warschau, Dresden oder Belgrad. Noch heute sind die Städte gezeichnet von der verheerenden Wirkung der Luftangriffe im Zweiten Weltkrieg.

Selbstverständlich ist ein modernes Kampfflugzeug nicht einfach ein Polizeiauto der Lüfte, sondern dient mit seiner Bewaffnung auch der Abschreckung und damit der Kriegsverhinderung. Im allgemeinen Weichzeichner der Abstimmungskampagne verschwamm die eigentliche Bestimmung der Jets allerdings etwas. Über Lenkwaffen und Feuerkraft wurde tunlichst nicht gesprochen.

Fähigkeitslücke seit den 1990er Jahren

So erfuhr die staunende Öffentlichkeit vergangene Woche scheinbar aus einer Mitteilung des US-Verteidigungsdepartements an den Kongress, dass die Schweiz als Zubehör zu einem neuen Kampfjet made in USA auch Geschosse des Typs Mk-82 erhielte. Im Internet findet sich dazu sofort die Bezeichnung Freifallbombe. Es hätte wenig erklärende Worte zur Entschärfung des Begriffs gebraucht – unter anderem den Nachsatz, dass in der Offerte auch die Lenk-Kits für die Mk-82 enthalten sind, die das Geschoss zur Hochpräzisionswaffe machen. Das Verteidigungsdepartement (VBS) hat es allerdings verpasst, allfälligen Begriffsbomben frühzeitig den Zünder abzuschrauben.

Die Gegner des Beschaffungsprojekts wandten sich dagegen postwendend empört an die Öffentlichkeit. Der Bundesrat habe verschwiegen, dass für die neuen Jets auch Luft-Boden-Munition beschafft werde. Die SP-Sicherheitspolitikerin Priska Seiler Graf twitterte etwa, sie sei absolut dagegen, dass die Erdkampffähigkeit durch die Hintertür wieder eingeführt werde. Mit Freifallbomben toleriere man unschuldige Opfer in der Zivilbevölkerung, doppelte sie am Wochenende im «Blick» nach. Durch deren Einsatz nehme man im dichtbesiedelten Gebiet der Schweiz grosse Kollateralschäden in Kauf. Hätte die Bevölkerung dies vor der Abstimmung gewusst, wäre die Vorlage wohl gescheitert, vermutet Seiler Graf.

Offensichtlich nutzen die Kampfjetgegner das knappe Ergebnis nun, um die argumentative Luftüberlegenheit über die Ausrichtung der Armee zu erlangen. Der Widerstand gegen robustere Fähigkeiten der neuen Kampfflugzeuge kommt da wie gerufen. Dabei war im Vorfeld immer klar, dass die Luftwaffe im Verteidigungsfall wieder in der Lage sein muss, die Bodentruppen mit Feuer aus der Luft zu unterstützen. Dies belegt ein Blick in die Grundlagendokumente des Beschaffungsprojekts.

Feuerkraft dient der Abschreckung und so letztlich der Kriegsverhinderung.
Chiang Ying-ying / AP

Bereits im Bericht «Luftverteidigung der Zukunft» schreiben die Armeeplaner, dass mit der Luftaufklärung und dem Erdkampf zwei Fähigkeiten wiedererlangt werden sollen, die in den 1990er Jahren verloren gegangen sind. Mit der Ausserdienststellung der Mirage und der Hunter gingen diese verloren. Moderne Mehrzweckkampfflugzeuge vereinen alle relevanten Fähigkeiten auf einer Plattform.

Präziser als die heutige Artillerie

Die Nationalrätin Seiler Graf schreibt der NZZ, sie habe ihre Aussage zum Erdkampf «zugegebenermassen etwas überspitzt formuliert», à fonds sei diese Frage aber nicht diskutiert worden, weder in der Kommission noch im Rat: «Ich denke, dass jetzt aber die Zeit reif ist, diese grundsätzliche Diskussion zu führen.» 2017 lehnte das Parlament den Antrag der Sicherheitspolitischen Kommission des Nationalrats ab, bei der Nutzungsverlängerung der F/A-18 auch gleich in deren Erdkampfbefähigung zu investieren. Der Armeestab verfasste im Vorfeld einen entsprechenden Bericht und rechnete mit Mehrkosten von 20 Millionen Franken.

Erdkampf ist ein etwas ältlicher Sammelbegriff für die direkte Feuerunterstützung der Bodentruppen (Nato: Close Air Support) oder das operative Feuer in die Tiefe des Raumes (Air Interdiction). Im Anforderungsprofil für die neuen Kampfflugzeuge fokussiert die VBS-Chefin Viola Amherd auf Air Interdiction. Die Flotte müsse in der Verteidigung unter anderem befähigt sein, die «Armee mit operativem Feuer ausserhalb der Reichweite der eigenen Artillerie» zu unterstützen. Mit den heutigen Mitteln können die Bodentruppen schweres Feuer nur rund 20 Kilometer weit transportieren.

In einem Schreiben an die Sicherheitspolitiker führte das VBS 2017 aus, präzises Feuer in die Tiefe erlaube es der Armee, in einem Gefecht die Initiative zu erhalten oder zurückzugewinnen. Der Ständerat Josef Dittli (fdp.) hält dies für eine zentrale militärische Fähigkeit, stösst sich aber an der unpräzisen Bezeichnung Erdkampf: «Das löst falsche Bilder aus. Es geht um Präzision. Genau wie bei den Luft-Luft-Raketen geht es bei den Luft-Boden-Raketen um Lenkwaffen zur Bekämpfung von Punktzielen», sagt Generalstabsoberst Dittli der NZZ. Die heutige Artillerie kann bis zur Einführung des Mörsers 16 nur Flächenfeuer schiessen.

Die VBS-Experten für ein neues Kampfflugzeug halten in ihrem Grundlagenbericht denn auch klar fest, das Ziel sei der Einsatz gelenkter Präzisionswaffen gegen ausgewählte Schlüsselziele. Die Autoren schreiben ausdrücklich, es gehe nicht darum, Flächenbombardements mit einem Bomber durchzuführen. Vorstellbar ist etwa die gezielte Zerstörung von Brücken, um einem Gegner den Weg abzuschneiden. Dafür muss das Geschoss eine exakt definierte Stelle treffen, um das Bauwerk auch tatsächlich zum Einsturz zu bringen.

Einsätze können jederzeit abgebrochen werden

Die US-Offerten zeigen denn auch, dass zusätzlich zu den Mk-82-Granaten mit dem Sprengstoff auch weitere Komponenten geliefert werden, die das Geschoss punktgenau ins Ziel bringen. Hinten werden Steuerflügel aufgeschraubt, vorne ein Lenk-Kit, dazu kommt der Zünder. Die Kontrolle der Granate im freien Fall kann über GPS, Trägheitsnavigation in Richtung Zielkoordinate, Radar, Infrarot oder Laser erfolgen. Bei Einsätzen in der Tiefe des Raums leuchten Spezialkräfte, das Trägerflugzeug oder ein Begleitjet die Ziele an und stellen so sicher, dass die Lenkwaffe präzise trifft. Die US-Luftwaffe und die Nato sprechen bei ihren Einsätzen von «surgical strikes».

Priska Seiler Graf hält dagegen, der Einsatz von Mk-82 gefährde wegen der grossen Splitter- und Druckwirkung stets auch zivile Ziele. Die SP-Sicherheitspolitikerin weist darauf hin, dass die Uno, angestossen vom Internationalen Komitee vom Roten Kreuz, eine intensive Diskussion über den Einsatz von Explosivwaffen in bevölkertem Gebiet führt: «Als Depositarstaat der Genfer Konventionen, welche Zivilisten in bewaffneten Konflikten schützen, ist es meiner Meinung nach inakzeptabel, dass die Schweiz Offerten für solche Waffen überhaupt einholt», sagt Seiler Graf der NZZ.

Laut einem erfahrenen Kampfjetpiloten wird bereits bei der Planung von Einsätzen die Auswirkung der Explosion genau berechnet, um zivile Opfer zu vermeiden. Ausserdem könnten Laser-gesteuerte Bomben jederzeit umgeleitet werden, wenn zu hohe Kollateralschäden zu erwarten seien. Dies sei ein Gebot, das sich aus dem Kriegsvölkerrecht ableite. Für den Piloten sei der Splitter-Radius der Lenkwaffe ersichtlich. Die Assoziationen, welche die Begriffe Erdkampf und Freifallbomben auslösen, halten also einer Realitätsüberprüfung nicht stand.

Die Polemik um Freifallbomben wird der Realität nicht gerecht: Die neuen Kampfjets müssen Ziele am Boden mit höchster Präzision bekämpfen können