Die Schweiz muss vorbereitet sein, wenn die Dinge schieflaufen sollten

Theodor Winkler, NZZ, 10.10.2020, 05.30 Uhr

Der geistige Vater der Maison de la paix in Genf warnt vor einer Aufweichung der Nato. Sein Alarmruf eröffnet eine Reihe von Beiträgen, die sich grundsätzlich mit der neuen Bedrohungslage und sicherheitspolitischen Konzepten auseinandersetzen.

Der Aufstieg Chinas und seine weltweiten Ambitionen müssen von der Schweiz im Auge behalten werden. Jason Lee /Reuters

Als der Kalte Krieg zu einem Ende kam, fand sich die Schweiz «von Freunden umzingelt». Heute, dreissig Jahre später, sehen wir uns von Problemen umstellt. Unser strategisches Umfeld verschlechtert sich zusehends. Es wird Zeit, sich wieder wärmer anzuziehen.

Die Nato, eben noch als das erfolgreichste Militärbündnis aller Zeiten gefeiert, weicht sich zusehends auf. Die USA unter Präsident Donald Trump unterschreiben Artikel V des Nato-Vertrages, die Verpflichtung, einen Angriff auf jeden Mitgliedstaat als Angriff auf alle Bündnispartner zu verstehen, nur noch bedingt – wenn überhaupt. Der nordatlantische Gedanke ist Trump fremd. Er setzt auf «America first», ohne eine strategische Vision zu haben und daher auch ohne sicherheitspolitische Strategie.

Schicksalswahl in den USA

Die Türkei geht offen eigene Wege. Sie sucht das Osmanische Reich wiederherzustellen, kauft Waffen in Russland und führt, ohne ihre Bündnispartner zu konsultieren, im syrisch-irakisch-kurdischen Raum und in Libyen Krieg. Im wieder ausgebrochenen Konflikt in Nagorni Karabach, in Syrien und in Libyen schlittert sie (noch) haarscharf an einem Konflikt mit Moskau vorbei. Ein offener Konflikt mit Griechenland über die Erdgasvorkommen im östlichen Mittelmeer ist jederzeit möglich.

Europa wird, auch militärisch, entscheidend geschwächt durch den Brexit, den der britische Premierminister Boris Johnson hart ausfallen lassen will – einerseits um sein Wahlversprechen einzulösen, andererseits um von den zahlreichen Problemen des Landes abzulenken. Ungarn und Polen steuern auf eine «illiberale Demokratie» zu und brechen damit mit der Wertegemeinschaft, auf der die europäische Einigung beruht.

Die Verschuldung Italiens und des Südens der Union, inklusive Frankreichs, nimmt schwindelerregende Ausmasse an. Covid-19 hat zu einer nochmaligen massiven Verschuldung des Westens geführt. Finanzielle Freiräume bestehen kaum noch. Das werden nicht erst unsere Kinder merken, sondern wir, sollte in den nächsten Jahren ein neues Virus auftauchen (was zu erwarten ist) oder uns eine andere Krise bedrohen.

Die amerikanischen Wahlen sind von schicksalhafter Bedeutung; ihr Ausgang aber bleibt unberechenbar. Es drohen Schreckensszenarien von ihrer langwierigen Entscheidung in Gerichtshöfen über einen Donald Trump, der eine Niederlage nicht hinzunehmen bereit ist und mit allen Mitteln (selbst gewaltsamen) zu verhindern suchen wird, bis hin zu einer tiefen konstitutionellen Krise.

Amerikas Zukunft, seine Verankerung in der Wertewelt, wie sie Präsident Woodrow Wilson zur Überwindung des Ersten Weltkriegs begründete, und die Rolle, welche die USA auf der internationalen Bühne spielen wollen und können, sind weit offene Fragen.

China will Kolonialmacht werden

Nur ein überwältigender Sieg Joe Bidens und die Erringung einer demokratischen Mehrheit nicht nur im Repräsentantenhaus, sondern auch im Senat könnten Abhilfe schaffen, bleiben aber unwahrscheinlich. Und: Biden wird ein Übergangspräsident sein, sollte er gewählt werden. Die politische Auseinandersetzung zwischen den tief verfeindeten politischen Flügeln wird weitergehen und wohl auch die Wahlen 2024 prägen.

Aber selbst ein Biden kann als US-Präsident die Uhren nicht einfach zurückdrehen. Zu viel Geschirr ist zerschlagen. Die nordatlantische Gemeinschaft, auf deren Existenz die Sicherheit unseres Umfeldes aufbaut, wird rivalisiert von China und bekämpft von Russland. Uno-Generalsekretär António Guterres warnt nicht umsonst vor der Gefahr eines neuen kalten Krieges.

China baut seine Macht auf allen Gebieten gezielt und systematisch aus. Seine Marine wächst jedes Jahr um das Äquivalent der französischen Flotte. Es modernisiert sein Atomwaffenarsenal, baut den perfekten elektronischen Überwachungsstaat auf, unterdrückt nationale und religiöse Minoritäten und strebt bis 2049, dem hundertsten Jahrestag der Gründung der Volksrepublik, eine völlige Einverleibung Hongkongs, Taiwans, der Süd- und Ostchinesischen See, der japanischen Senkaku-Inseln und von weiteren Teilen des Himalajas an – wenn nötig mit Gewalt.

Das gigantische Projekt «One Belt, One Road» legt offen die Grundlagen für eine quasikoloniale Präsenz in weiten Teilen der Welt, insbesondere in Afrika und anderen rohstoffreichen Gegenden. Xi Jinping ist überzeugt, dass der westliche Liberalismus abgewirtschaftet hat und durch Chinas auf dem Wohl des Kollektivs beruhende politische Ordnung abgelöst werden muss und kann. Den Schlüssel dazu stellen moderne Technologie, Cyber und künstliche Intelligenz dar – jene Bereiche also, deren Beherrschung den Kern eines neuen kalten Krieges zwischen den USA und China darstellt.

Die europäischen Grenzen sind in Bewegung

Putins Russland versucht kaum verhüllt, die alte Sowjetunion wieder aufleben zu lassen, deren Auflösung Putin den grössten Fehler des 20. Jahrhunderts genannt hat. Er bedient sich wirtschaftlicher und politischer Mittel etwa in Zentralasien, scheut aber auch nicht den Einsatz offener militärischer Mittel. Dies haben die Annexion der Krim und der Einmarsch «kleiner grüner Männer» in die Ostukraine deutlich gezeigt.

Putin nutzt jede Verwirrung, die der Kalte Krieg zurückgelassen hat. Transnistrien, Abchasien und Südossetien sind noch immer quasi russisch besetzt. Putin rüstet konsequent auf. Er hat auf die Aufkündigung des ABM-Vertrages und die Ankündigung der USA, Raketenabwehr-Raketen in Osteuropa aufzustellen, mit der Entwicklung hyperschneller Interkontinentalraketen, weitreichender Marschflugkörper und neuer Mittelstreckenraketen (insbesondere der «Iskander») reagiert, die klar gegen den INF-Vertrag verstossen, den die USA denn auch prompt aufkündigten.

Noch üben die Nato-Staaten gemeinsam wie während des Manövers Baltops diesen Juni. Die Allianz hat aber unübersehbare Risse erhalten. Mc1 Kyle Steckler / US Navy / Planet Pix via ZUMA Wire

Wirtschaftlich ist Russland nach wie vor auf Rohstoffexporte (insbesondere Öl) angewiesen. So wird das Riesenland in den Worten Helmut Schmidts zunehmend zu einem «Lesotho mit Kernwaffen». Aber diesen Kernwaffen (volle 7000 Sprengköpfe) steht in Europa immer weniger gegenüber. Diesmal gibt es keine Pershing II, keine westlichen Euromissile, die eine strategische Abkoppelung Westeuropas von den USA verhindern sollen.

Die amerikanische konventionelle Präsenz in Europa nimmt schnell ab, während Russlands Macht auch auf diesem Gebiet wächst. An Moskaus jährlichen «Wostock»-Manövern nehmen jeweils über 350 000 Mann teil – ohne dass entsprechend den OSZE-Vorschriften westliche Beobachter eingeladen würden.

Die baltischen Staaten fürchten, dass Russland ihre grossen russischen Minderheiten aufwiegelt und wie in der Ukraine «kleine grüne Männer» über die Grenze schickt. Ein massiver Cyberangriff auf Estland hat schon stattgefunden. Polen sieht die Lage kaum ruhiger. Hier baut sich ein neues Konfliktpotenzial auf. Putins Entschluss, Alexander Lukaschenko in Weissrussland an der Macht zu halten, gibt ihm de facto Kontrolle auch über dieses Land.

In Europa sind die Grenzen wieder in Bewegung geraten – und sie werden gewaltsam Richtung Westen verschoben. Terraingewinne strategischer Natur hat Russland zudem im Nahen und Mittleren Osten und in Libyen erzielt.

Enormer Migrationsdruck

Es ist kaum noch ein Rüstungskontrollvertrag in Kraft; neue sind, auch unter einem Präsidenten Biden, kaum wahrscheinlich, da sie China einbeziehen müssten, was dieses aber strikt ablehnt. Die vordergründige Allianz zwischen China und Russland gibt beiden mehr Spielraum – auch wenn kein Herzblut in der Beziehung steckt. Dazu ist Sibirien viel zu dünn besiedelt, gibt es viel zu viele Chinesen. Die institutionellen Gesprächsebenen zwischen Russland und dem Westen sind nach der Aufkündigung der G-8 kaum noch vorhanden und wurden mit China gar nie geschaffen.

Zur Instabilität unseres strategischen Umfeldes trägt die explodierende Bevölkerung Afrikas bei, die bis 2100 von heute 1,2 auf 4,4 Milliarden anwachsen dürfte. Es droht ein bisher noch nie gekannter Migrationsdruck, möglicherweise beschleunigt durch den Klimawandel und steigende Meeresspiegel. Zur Stabilität trägt nicht bei, dass Europas Migrationsgrenze durch eine unberechenbare Türkei und ein instabiles Libyen gebildet wird. Oft übersehen, nimmt gleichzeitig die Bedrohung durch organisiertes Verbrechen, die strategische Dimensionen annimmt, zu.

Wir leben wieder in unsichereren Zeiten. Das fordert uns heraus, aktiv zum Frieden beizutragen, aber uns auch wieder vorzusehen für den Fall, dass die Dinge schieflaufen sollten.

Die Schweiz muss vorbereitet sein, wenn die Dinge schieflaufen sollten